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Bericht

Gefährliches Halbwissen

Debatte um Impfpflicht in Italien geht weiter

Bericht

Gefährliches Halbwissen

Debatte um Impfpflicht in Italien geht weiter

Über das Projekt

Lieber riskieren, dass das eigene Kind krank wird, als mögliche Nebenwirkungen einer Impfung? Darum wird auch in Italien seit Jahren erbittert gestritten. Im Sommer 2017 hat die Regierung in Rom eine Impfpflicht für Erstklässler durchgesetzt, inklusive Strafen für widerspenstige Eltern. Aus dieser Zeit stammt auch die folgende Reportage. Inzwischen weicht die neue Regierung aus Fünf-Sterne-Bewegung das Gesetz allerdings wieder auf und löst damit eines ihrer Wahlversprechen ein.

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Datum

Juli 2017

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swr.de

„Gefährliches Halbwissen“:
Debatte um Impfpflicht in Italien geht weiter

Die Freiheit, selbst zu entscheiden, statt Impfpflicht für alle. Um das zu fordern, haben sich auch in dieser Woche Hunderte vor dem römischen Senat versammelt. Viele in knallorangenen T-Shirts mit der Aufschrift „No Vax“ – keine Impfung, wie dieser 35-jährige Römer, Vater einer kleinen Tochter, der er seine eigenen Erfahrungen gern ersparen möchte.
Zu meiner Zeit, als ich ein Kind war, wurde ich allen Impfungen unterzogen, die damals vorgesehen waren – mit allen möglichen Nebenwirkungen. Die bestanden in hohem Fieber, über 40 Grad, bis zu drei Wochen lang, begleitet von Erbrechen, Krämpfen und in manchen Fällen sogar epileptischen Anfällen. Also, ich will die Möglichkeit haben, zu wählen. Wir sind hier, weil wir verlangen, Wahlfreiheit zu haben.“
Er protestiert, während drinnen, im Palazzo Madama, die italienischen Senatoren Änderungen an der Reform beraten, die die Politik schon vor Wochen auf den Weg gebracht hat. Nach massiven Widerständen sind zwei der zwölf Pflichtimpfungen wieder von der Liste gestrichen worden – ohne Meningitis B und C, bleiben unter anderem Masern, Tetanus, Windpocken und Kinderlähmung. Um zu verstehen, warum es dagegen im ganzen Land so massive Proteste gibt, müsse man die italienische Mentalität kennen, sagt Isora Saponara, Kinderärztin in Rom.
Italiener sind ein Dagegen-Volk. Wenn sie Angst davor haben krank zu werden, wollen sie die Impfung jetzt, sofort, hier. Aber wenn du eine neue Impfung vorschlägst, wird die abgelehnt. Das ist ein Automatismus: Schon wieder eine Impfung, schon wieder mein Kind, das Arme!“
Isora Saponara
Und so ist in den vergangenen Jahren die Zahl der Impfungen in Italien zurückgegangen, die Zahl der Impfgegner aber gestiegen. Sie bezweifeln, dass die Wirkstoffe helfen oder vermuten, Impfschäden würden gezielt verschwiegen. Ängste, die man ernst nehmen, gefährliches Halbwissen, dem man mit Fakten begegnen müsse, so die 62-jährige Kinderärztin.
Es gibt viele Lügen auf der Seite der Impfgegner, aber auch auf der anderen Seite. Klar, dass man darüber keine individuelle Debatte führen kann. Es gibt Statistiken. Natürlich können die auch manipuliert werden, aber wenn man doch auf der ganzen Welt sieht, was für Komplikationen diese Krankheiten auslösen, ist doch klar, dass die Impfung etwas Positives ist, ein kleines Risiko.“
Isora Saponara
Ein Risiko, dass jedoch viele Italiener scheuen. Allein in den ersten fünf Monaten des Jahres wurden den Behörden knapp 2400 Masernfälle gemeldet. Im gesamten Vorjahr waren es nur 860. Fast 90 Prozent waren nicht geimpft. Das befeuert die aktuelle Debatte. Massive Kritik an dem Gesetz, für das Gesundheitsministerin Beatrice Lorenzin seit Monaten kämpft, kommt aus der Fünf-Sterne-Bewegung. Sie sieht darin ein „Geschenk an die Pharmalobby“. Ein Gedanke, den auch der italienische Blogger und Philosoph Diego Fusaro teilt. Lautstark auch am Wochenende, bei einer Großdemonstration vor zehntausend Menschen im norditalienischen Pesaro.
Sagen wir es ganz offen: Der Nationalstaat muss nationale Interessen vertreten. Stattdessen vertritt er sehr stark multinationale Interessen – die überwiegen soweit das Auge reicht.
Diego Fusaro
So gar nicht im Interesse der Eltern sei es hingegen, wenn sie ihre Kinder nicht mehr in Krippe, Kita oder Schule bringen dürften, weil sie nicht geimpft sind. Zudem werden Bußgelder fällig – in Höhe von 500 Euro, statt wie ursprünglich vorgesehen, bis zu 7500. Künftig sollen Ärzte und Apotheken stärker mit den Behörden zusammenarbeiten und Versäumnisse melden. Ein Weg, der in den Augen des Experten für Immunologie Alberto Mantovani, alternativlos ist.
Wenn wir unsere Kinder impfen lassen, ist das wie den Sicherheitsgurt anlegen. So schränken wir das Risiko ein, für denjenigen, der auf dem Kindersitz ist. Wir schnallen die Kinder also gewissermaßen an, die das ja nicht selbst können.
Alberto Mantovani
Beschließen beide Kammern das Gesetz rechtzeitig, soll es schon ab dem kommenden Schuljahr gelten, das in ganz Italien im September beginnt.