Meinung
Die Musik als Anker im Leben
Erinnerungen der Holocaust-Überlebenden Esther Bejarano
Meinung
Die Musik als Anker im Leben
Erinnerungen der Holocaust-Überlebenden Esther Bejarano
Über das Projekt
Um auch nur ansatzweise zu verstehen, welchen Horror die Opfer des Holocaust erleiden mussten, gibt es keinen eindrücklicheren Weg als Überlebenden zuzuhören. Mehr als 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wird es natürlich immer weniger Menschen, die als Zeitzeugen erzählen können. Und so stellt sich die Frage, wie die Erinnerungen an das schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit, lebendig gehalten werden kann. Das Buch von Esther Bejarano ist so eine Möglichkeit. In „Vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Rap-Band gegen Rechts" schildert sie ihren Widerstand und wie die Musik ihr im Konzentrationslager das Leben gerettet hat. Hier meine Rezension:
Rezension zu "Vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Rap-Band gegen Rechts"
Es gibt Leute, die sagen, nach Auschwitz kann man keine Musik mehr spielen und komponieren, keine Bilder mehr malen, keine Gedichte schreiben. Das stimmt alles nicht. Im Gegenteil, man muss Musik machen, und ich bin so froh, dass ich heute Musik machen kann, die uns hilft, zu erinnern und nachzudenken. Das Leben geht weiter.
Dass Esther Bejaranos Leben weitergeht, verdankt sie der Musik. Sie verdankt es dem Akkordeon, das sie spielt, seitdem es zu ihrem Rettungsanker wurde. Als sie im Frühjahr 1943 ins Todeslager von Auschwitz kam und dort Mitglieder für ein Frauenorchester gesucht wurden, meldete sich die damals Neunzehnjährige als Akkordeonistin – für ein Instrument, das sie nie zuvor in Händen gehalten hatte. Auf Anhieb traf sie die richtigen Töne, wurde in die Kapelle aufgenommen und so erst einmal von schwerster körperlicher Arbeit verschont. In den kommenden Monaten spielte die schmächtige Frau buchstäblich um ihr Leben. Dabei war die Musik Rettung, Widerstand und Strafe zugleich.
Wenn neue Transporte ankamen, die für die Gaskammer bestimmt waren, mussten die Musikantinnen am Tor stehen und Musik machen. Die Menschen winkten uns zu und wir wussten, mein Gott, die denken, wo Musik spielt, kann es nicht so schlimm sein. Das ist das Schlimmste, was ich erlebt habe in Auschwitz. Ich meine, ich habe ganz schreckliche Dinge gesehen, aber das ist, was mich am meisten bewegt und über die Jahre gequält hat, und das ist bis heute so geblieben.
Von dieser Zeit, von ihrem ganzen, durch die Erfahrungen vernarbten Leben, erzählt Esther Bejarano in einem Porträt, das aus handschriftlichen Memoiren und ergänzenden Interviews hervorgeht. Darin erinnert sich die heute 89-Jährige chronologisch und in einfachen, nüchternen Worten, die in gewisser Hinsicht die Kraft einer Zeugenaussage bewahren. Ihre einleitenden Schilderungen einer unbeschwerten Kindheit, scheinbarer Nebensächlichkeiten, bilden den Kontrast für das Unbeschreibliche. Auf die banale Idylle folgt die viel zitierte Banalität des Bösen, die im Pogrom der von den Nazis so bezeichneten "Kristallnacht" gipfelte und die die Familie so nicht hatte kommen sehen.
Mein Vater hätte nie gedacht, dass die Reaktion der SA-Schergen eine so feindselige wäre. Diese nämlich schrien ihn an: 'Du Sau-Jud, wir pfeifen auf dein Eisernes Kreuz und auf deine Kriegsverletzung, halt´s Maul, sonst kannst du was erleben'. Da erst wusste mein Vater, dass er so schnell wie möglich versuchen musste, mit dem Rest der Familie ins Ausland zu fliehen.
Doch dafür war es bereits zu spät. Kurz darauf wurden die Eltern deportiert und ermordet. Auch eine Schwester konnte sich nicht retten. Doch wer nach Verbitterung sucht, nach Rachlust oder Hass, der wird in den Erinnerungen Bejaranos nicht fündig; in den Erinnerungen einer Frau, die trotz allem sagt, sie habe "viel Glück in ihrem Leben gehabt, ein ganz großes Glück, ein unheimliches Glück." Doch verweilt sie in ihrer Erzählung nicht bei den Gefühlen, etwa über die wiedergewonnene Freiheit nach dem Krieg, sondern blickt auf die wiederum an die Musik gebundenen Brüche.
Kein Vertrauen zu den Menschen in Deutschland
Ein russischer Soldat brachte ein riesengroßes Bild von Adolf Hitler und stellte es mitten auf den Marktplatz. Ein anderer rief: Musik, wer macht Musik? Ein amerikanischer und ein russischer Soldat zündeten es an. Adolf Hitlers Bild brannte lichterloh, die Soldaten und die Mädchen aus dem KZ tanzten um das Bild herum und ich spielte Akkordeon.
Vor allem war Bejarano bewusst, dass Deutschland nicht mehr ihre Heimat sein konnte. Voller Hoffnung auf ein neues Leben emigrierte sie nach Israel. Der neue Staat, durch einen Befreiungskrieg entstanden, sollte sowohl ihr Bedürfnis nach Verwurzelung als auch nach Flucht stillen. Zwar verliebte sie sich hier in ihren späteren Mann, heiratete ihn und wurde Mutter zweier Kinder. Doch das Klima bekam ihr nicht, im doppelten Sinn. Die Hitze machte ihr zu schaffen, die israelische Politik lehnte sie ab. So kehrte sie fünfzehn Jahre später in ihr Geburtsland zurück – doch die erhoffte Erlösung wich blankem Entsetzen.
Als wir mit dem Zug aus der Schweiz an die deutsche Grenze kamen und ich den ersten Polizisten sah, wurde mir übel. Jeder deutsche Polizist hat mich an die Gestapo denken lassen. Ich hatte kein Vertrauen zu den Menschen in Deutschland.
Bejarano blieb dennoch, suchte sich aber für ihren Neuanfang, ihr drittes Leben, einen Ort aus, der sich nicht direkt mit der Vergangenheit verband. In Hamburg glaubte sie, gemeinsam mit ihrer kleinen Familie einen Platz in der Welt gefunden zu haben und war umso entsetzter, als Nazis vor ihrer Haustür die alten Parolen brüllten.
Wahrscheinlich kann sich das niemand vorstellen, wie schrecklich das für uns ist, wenn man sieht, dass da wieder diese ganzen Nazis Aufmärsche machen können, die genehmigt werden. Wie damals!
Ein auslösendes Moment für Esther, die beschließt, sich gegen rechte Tendenzen zu engagieren. Seitdem erzählt sie öffentlich ihre Geschichte, die sie lange nicht einmal ihrer Familie anvertraut hatte. Auch als Therapie. Sie wurde zur Stimme gegen das Vergessen, hat auf unzähligen Konzerten für Frieden und gegen Intoleranz angesungen und tausenden Schülern ihre Erlebnisse geschildert.
Das Erste, was ich denen sage ist: Also ihr habt überhaupt keine Schuld an dem, was damals geschah. Aber ihr macht euch schuldig, wenn ihr nichts über diese Zeit wissen wollt. Darum bitte ich euch: Hört gut zu, weil es ganz wichtig ist, dass so etwas nie wieder passiert.
Um die Jugendlichen aus der mittlerweile vierten Nachkriegsgeneration besser zu erreichen, ist die ausgebildete Koloratursopranistin zur Musik zurückgekehrt. Sie ist schon über achtzig gewesen, als sie die Kölner Band "Microphone Mafia" traf und den Hip-Hop für ihre Botschaft entdeckte. Was einst ihr Leben rettete, soll jetzt vor dem Vergessen schützen.
Mit klugem, teils ironischem Blick schafft es Esther Bejarano in ihren Erinnerungen einen Bogen von der Vergangenheit in die Gegenwart zu schlagen: Im Gegensatz zu vielen anderen Erzählungen über Auschwitz gibt es ein Davor und ein Danach. Damit nehmen Politik und Geschichte authentische Züge an und lassen auch die tausendundeinste Zeitzeugenschilderung zu einem wertvollen Zeitdokument werden.