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Reportage

"Wir geben nicht auf"

Reportage aus dem Ort des Epizentrums Montereale

Reportage

"Wir geben nicht auf"

Reportage aus dem Ort des Epizentrums Montereale

Über das Projekt

Monatelang war die Erde Mittelitaliens nicht zur Ruhe gekommen, nach dem schweren Beben 2016, als in Amatrice kaum ein Stein auf dem anderen geblieben ist und 300 Menschen ihr Leben verloren haben. Das steckt nicht nur den Bewohnern der Region in den Knochen, sondern hat auch viele Häuser angeknackst. Als es dort dann am 18. Januar 2017 noch einmal heftig bebt, sorgen Minusgrade, Massen an Schnee und beschädigte Stromleitungen für zusätzlich erschwerte Bedingungen – auch für die Berichterstattung.

Kurz nach dem Beben war ich in Rom, um das ARD-Studio zu verstärken. Und wenig später auch schon im Mietwagen auf dem Weg in die Region, um mir ein Bild von der Lage zu machen und mit Anwohnern und Rettern zu sprechen. Dabei ist auch diese Reportage in dem kleinen Dorf Montereale entstanden, dort, wo Tage zuvor das Epizentrum des Bebens lag.

Audio


Datum

Januar 2017

Reportage aus dem Ort des Epizentrums Montereale

Marcello D’Onofrio trägt Sturzhelm und Designerbrille während er drei Möbelpacker instruiert, die kistenweise Aktenordner, Schreibtische und Kopiergeräte aus dem Palazzo tragen.
Ich ziehe um. Ich muss woanders hin, weil das Büro in der ersten Etage ist und das ist ziemlich beschädigt. Da gibt es jetzt keine Garantie.
Marcello D’Onofrio
Risse in den Wänden ziehen sich von der Stuckdecke bis zum Marmorfußboden. Der 50-jährige Architekt hat bereits die Zusage für finanzielle Unterstützung vom Staat. Wie viel, weiß er noch nicht, aber dass das nicht reichen wird, ist ihm klar.
Fundamentale Baumaßnahmen, es bräuchte Maßnahmen, um das Haus erdbebensicher zu machen. Oder vielleicht sollte man das Haus gleich ganz abreißen.
Marcello D’Onofrio
In seiner Straße säumen Schneemassen die Bordsteine. Bis zu anderthalb Meter sind gefallen. Mitarbeiter von Zivilschutz und Feuerwehr schippen ihn mit der Schaufel oder transportieren ihn mit Baggern ab. Seit fast einer Woche sind die Rettungskräfte rund um die Uhr im Einsatz, arbeiten unter schwierigsten Bedingungen, an mehreren Fronten: Gegen die anhaltende Serie von Erdbeben, in einem Winter, der so hart ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Chef der örtlichen Feuerwehr ist Carmine Iampieri, 60 Jahre alt, die hohe Stirn in Falten, die müden Augen zusammengekniffen. Die Hauptstraßen sind erst seit wenigen Stunden frei. Hunderte Haushalte waren allein in Montereale tagelang von der Außenwelt abgeschnitten, ohne Strom und damit ohne Heizung.

© Sarah Zerback

Die schwierigsten Einsätze sind eindeutig die, bei denen es um Menschen mit Behinderung geht oder in abgelegenen Gegenden wohnen – Da kommen wir dann nur mit schwerem Gerät hin. Die Menschen hier sind schon ziemlich besorgt. Auch weil die Beben weitergehen. Das letzte Mal heute Morgen mit 2,9 auf der Richterskala. Das hat man gerade mal so gespürt, aber im Moment sind die Menschen extrem sensibel. Auch bei kleinen Stößen haben sie große Angst, das ist das Problem.
Carmine Iampieri
Und als wäre das nicht genug, hat am Mittag der Absturz eines Rettungshubschraubers einem Skifahrer und seinen fünf Rettern das Leben gekostet. In der Einsatzzentralen verfolgt das Team rund um Iampieri mit ernsten Mienen die Live-Aufnahmen von der Absturzstelle – nur etwa 50 Kilometer von Montereale entfernt.
Ehrlich gesagt werden wir ein bisschen auf die Probe gestellt von dieser Konzentration an Notfällen – das landet ja alles bei uns. In den Abruzzen haben wir Farindola, das von der Lawine weggerissen wurde, wir haben Erdbeben- und Schneeeinsätze, heute auch noch den Helikopterabsturz – hoffen wir mal, dass es das jetzt war.
Carmine Iampieri
Das hofft auch Fleischerin Luisa Ferri. Die 53-Jährige wurde vom Beben überrascht, als sie gemeinsam mit ihrer Tochter hinter der Ladentheke stand. Drei Erdstöße, Stärke 5,7. Sie streicht sich mit dem Handrücken eine wilde Locke aus dem Gesicht, rückt die knallpinke Brille zurecht, während sie sich erinnert.
Ich hatte Angst, sehr sogar. Das war so stark. Alles hat sich bewegt, die Wände, die Decke, der Boden. Wir sind dann rausgegangen, da ist uns der Schnee von den Dächern entgegengeflogen – es war als ob alles auseinanderbrechen würde. Das war der Horror.
Luisa Ferri
Und auch ihr Geschäft läuft immer schlechter. Die meisten Fensterläden in Montereale sind geschlossen, die Eingänge der Häuser verschneit. Die 2.500-Einwohnergemeinde, gelegen zwischen L’Aquila und Amatrice, wird langsam zur Geisterstadt.
Es ist niemand geblieben. Die Geschäfte machen morgens auf, aber bleiben ab dem Nachmittag geschlossen, alle sind weg. Wenn du nach draußen schaust, siehst du nur Polizei. Wir sind wirklich kurz vor der Pleite. Die Wirtschaft hier ist am Ende, die gibt es nicht mehr.
Luisa Ferri
Fleischerin Ferri will trotzdem bleiben, ihr Geschäft nicht aufgeben. In einer Region, in der die meisten von Tourismus oder Landwirtschaft leben, ist Flucht keine Lösung, sagt Beraldino Marcchetti, der stellvertretende Bürgermeiste. Dabei treffe es die Bauern in der Gemeinde besonders hart.
Wir haben Probleme mit den Höfen. Ein Stall ist am Morgen des Erdbebens eingestürzt. Das hat die Tiere getötet. Wir brauchen Infrastruktur, für die Tiere, aber natürlich auch für die Menschen. Schon vor den jüngsten Beben waren 500 Häuser nicht bewohnbar. Und jetzt ist es noch schlimmer geworden.
Beraldino Marcchetti

© Sarah Zerback

Der 58-Jährige ist hier geboren und aufgewachsen. Am meisten sorgt er sich um all jene, die seit den Beben kein Dach mehr über dem Kopf haben. Knapp 300 von ihnen sind jetzt in Zelten untergebracht, die meisten sind 70 Jahre oder älter. Betreut und versorgt werden sie von Maltesern und Alpini, den italienischen Gebirgsjägern wie Raffaele Madonna. Seine Aufgabe versteht er so:
Erstmal versuche ich Floskeln zu vermeiden wie: Machen Sie sich keine Sorgen, etc. Ich versuche alles zu tun, um die Menschen zu beruhigen. Sei es praktisch oder psychologisch gesehen. Damit sie sich beschützt fühlen und geborgen.
Raffaele Madonna
Unterstützung, die brauche jetzt die gesamte Gemeinde, sagt Bürgermeistervize Marcchetti. Während er mit neongelber Warnweste und Boots durch den Schnee stapft, ist der Bürgermeister der Stadt in Rom. Er wirbt für mehr Hilfen vom Staat – schnell und unbürokratisch.
In dieser Gegend wissen wir seit Jahrhunderten, dass es Erdbebenrisiken gibt. Wir müssen die Menschen in Sicherheit bringen. Doch das Hauptproblem in Italien ist die Bürokratie. Es wurde ein bürokratisches System kreiert, wo man Monate, Jahre braucht um ein Projekt genehmigt zu bekommen. Das ist verrückt.
Beraldino Marcchetti
Stolz ist er hingegen auf die Gemeinde – Alle halten zusammen, niemand lässt sich unterkriegen, sagt Marcchetti und zeigt auf ein Pappschild, dass jemand in den meterhohen Schnee gesteckt hat. „Non molliamo mai“ steht darauf: Wir lassen uns nicht unterkriegen.